21.02.2022
Sozialer Zusammenhalt

«Wir läuten mit unserem Zeitpolster-Projekt auch ein Stück gesellschaftlichen Wandel ein.»

Das Projekt Zeitpolster des von der Stiftung Lebenswertes Liechtenstein unterstützten Vereins Zeitvorsorge Liechtenstein stellt soziale Freiwilligenarbeit ins Zentrum, bei der Helfende und Hilfesuchende gleichermassen profitieren. Ein Modell, das in anderen Ländern bereits erfolgreich funktioniert. – Vereinspräsident Ewald Ospelt und Geschäftsführerin Judith Oehri geben im folgenden Interview Einblick, wie das Projekt bisher in Liechtenstein angenommen worden ist.

Kurz skizziert: Wie funktioniert das Projekt Zeitpolster?

Judith Oehri: Bei uns können sich Menschen melden und registrieren lassen, die unentgeltlich Hilfe leisten wollen und solche, die Hilfe benötigen. Einmal geleistete Stunden werden dabei den Helfenden auf persönliche Zeitkonten gutgeschrieben, damit diese später einmal selbst Stunden davon kostenfrei in Anspruch nehmen können. Hilfesuchende, die noch kein solches Guthaben angespart haben, müssen unabhängig von der Art der Dienstleistung zehn Franken pro Stunde zahlen, für Fahrdienste 30 Franken. Dieses Geld deckt zum einen Organisationskosten, landet aber hochprozentig auf einem sogenannten „Notfallkonto“, von dem wir Leistungen bezahlen, die – sollte es einmal der Fall sein – nicht mit unseren unentgeltlich tätigen Helfenden abgedeckt werden können.

Das Projekt läuft seit knapp zwei Jahren in Liechtenstein. Wie sind die bisherigen Erfahrungen?

Judith Oehri: Wir sind natürlich mitten in die Corona-Pandemie hineingestartet. Eine Zeit, in der es schwer war, an die Menschen – im wahrsten Sinne des Wortes – heranzukommen und dieses für unser Land neue Modell öffentlich bekannt zu machen. Erfreulicherweise zieht seit Anfang 2022 das Interesse und die Nachfrage für unser Angebot aber spürbar an.

Ewald Ospelt: In Corona-Zeiten empfiehlt man ja der Bevölkerung, nicht unbedingt nötige Kontakte zu meiden. Ausserdem haben gerade in den letzten beiden Jahren viele Veranstaltungen nicht stattgefunden, an denen wir direkten Kontakt zu Interessierten aufbauen und die Idee näher vorstellen hätten können. Das gilt es jetzt einfach aufzuholen. Aber wenn sich die bisherigen Erfahrungen mit dem Zeitpolster-Modell einmal unter den Menschen herumsprechen und so eine gewisse Dynamik und ein Netzwerk entstehen, dann bin ich für die Zukunft sehr zuversichtlich.

Wirft ein zu Pandemie-Zeiten derart schwieriger Start nicht alle Erwartungen und Prognosen über den Haufen?

Judith Oehri: Das kann man wohl sagen. Wir stehen trotz gutem Start ins neue Jahr aktuell etwa bei einem Drittel von dem, wo wir eigentlich zum jetzigen Zeitpunkt stehen wollten.

Ewald Ospelt: Unabhängig davon ist es uns aber gelungen, den Verein gut aufzugleisen. Vom Ziel, dass der Verein in naher Zukunft selbsttragend sein wird, sind wir natürlich weiter weg als geplant. Jetzt geht es vor allem darum, die weitere Finanzierung sicherzustellen. Wir haben daher bereits ein Papier mit verschiedenen Zukunftsszenarien erarbeitet, das wir demnächst gemeinsam mit dem Stiftungsrat der Stiftung Lebenswertes Liechtenstein erörtern werden. Wir sind trotz des schwierigen Starts davon überzeugt, dass das Zeitpolster-Modell eine Zukunft hier im Land hat.

Gibt es in Liechtenstein denn Rahmenbedingungen oder Besonderheiten, die es im Vergleich zu anderen Ländern zu berücksichtigen gilt?

Ewald Ospelt: Die demografischen Entwicklungen sprechen eigentlich überall die gleiche Sprache: Die Baby-Boomer-Zeiten sind ja längst vorbei, statt früher vier oder fünf Kinder haben heute viele Eltern vielleicht noch zwei oder bleiben sogar kinderlos. Und auch das ehemals klassische Lebensmodell, dass der Mann arbeiten geht und die Frau sich zu Hause um Familie und Haushalt kümmert, ist in vielen Partnerschaften längst überholt. Was in Liechtenstein allerdings zu bemerken ist, ist eine noch sehr traditionelle Erwartungshaltung den Nachkommen gegenüber. Ein Beispiel: Mäht etwa bei einem betagten Ehepaar ein den Nachbarn bis dato Unbekannter den Rasen, muss sich das Paar nicht selten die Frage anhören, ob denn der eigene Sohnemann dafür keine Zeit mehr hat. Ganz abgesehen davon, dass sich viele Liechtensteiner generell selbst einfachste Arbeiten nur von professionellen Anbietern machen lassen. Auch weil man damit zeigt, dass man sich das leisten kann und will.

Judith Oehri: Dazu kommt, dass in Liechtenstein das Modell der Freiwilligenarbeit gar nicht so bekannt ist wie in anderen Ländern. Bei uns kennt man das am ehesten noch im Rahmen von Vereinen. Das Annehmen von fremder Hilfe ist daher für viele Menschen im Land noch ungewohnt und schwierig. So gesehen läuten wir mit unserem Zeitpolster-Projekt auch ein Stück gesellschaftlichen Wandel ein.

Kommen wir zum konkreten Projekt Zeitpolster zurück. Welche Hilfeleistungen sind denn aktuell besonders gefragt?

Judith Oehri: Derzeit boomen bei uns die Fahrdienste. Etwa wenn es darum geht, zu Therapien oder Kuren gefahren zu werden. Das Bedürfnis, selbst im höheren Alter mobil und autonom zu bleiben, ist hier im Land stark ausgeprägt. Daneben sind auch administrative Hilfsdienste, etwa Handy- und App-Unterweisungen oder Erledigungen im Alltag gefragt. Und im Frühling und Herbst kommen natürlich auch Gartenarbeiten dazu. Gerade bei körperlich anstrengenden Arbeiten fehlen uns leider häufig tatkräftige Männer, die das übernehmen. Wir können natürlich nur jene Dienste anbieten, wo wir auch Helfende dafür haben.

Der Verein plant, das derzeitige Zeitpolster-Angebot zu erweitern und noch besser an die Gegebenheiten hier im Land anzupassen. Können Sie uns da schon etwas verraten?

Judith Oehri: Ja, wir wollen von dem Stigma weg, dass man alt und bedürftig sein muss, um Zeitpolster in Anspruch zu nehmen. Es braucht auch nicht zwingend einen Betreuungskontext. Wir haben ja auch schon Anfragen bekommen, ob jemand während der Ferien die Katze zuhause füttern oder die Pflanzen giessen kann. Und auch in Sachen Kinderbetreuung oder der Unterstützung von Schülern und Lernenden gäbe es jede Menge Bedarf.

Ewald Ospelt: Wir wollen uns in Zukunft bewusst Bereichen widmen, die etwa auch für junge Familien oder Alleinstehende interessant sind. Unter dem Stichwort „Nachbarschaftshilfe“ kommt man natürlich auch niederschwelliger und altersunabhängiger in Kontakt. Dabei ist uns aber ganz wichtig, dass unser Angebot keinesfalls eine Konkurrenz zu bestehenden oder gar staatlichen Angeboten darstellen soll, sondern vielmehr eine sinnvolle Ergänzung dazu. Wir wollen sozusagen auf Stand-by in der zweiten Reihe und nicht als erste Ansprechstelle wahrgenommen werden. Man muss ausserdem bei neuen, spezielleren Diensten immer vorab abklären, ob wir das überhaupt von den gesetzlichen Voraussetzungen her leisten können und dürfen.

Zum Abschluss: Was wünschen Sie sich für das Projekt Zeitpolster in den nächsten Jahren?

Judith Oehri: Es wäre schön, wenn die Menschen öfters aus eigenem Antrieb zueinander finden würden: jene, die Hilfe anbieten wollen und jene, die Hilfe brauchen. Beide sollten sich danach einfach bei uns registrieren lassen, um die Hilfsarbeiten über unser Zeitpolster-Modell durchzuführen. Und ich wünsche mir, dass es hier im Land selbstverständlicher wird, dass man fremde Hilfe auch annehmen darf.

Ewald Ospelt: Mein Wunsch wäre, dass sich das Projekt Zeitpolster möglichst bald selbst finanziert und trägt und zur etablierten und anerkannten Institution wie etwa die Familienhilfe Liechtenstein wird. Nicht als Konkurrenz, sondern parallel dazu als wertvolle Ergänzung und wichtiges Angebot.