03.03.2022
Ernährung & Landwirtschaft

Gefordert wie nie zuvor: die Landwirtschaft

Gastbeitrag von Urs Niggli
Urs Niggli
Urs Niggli studierte an der ETH Landwirtschaft. Er arbeitete bei Agroscope Zürich-Reckenholz und Wädenswil, von 1990 bis 2020 war er Direktor des Forschungsinstituts für biologischen Landbau (FiBL) in Frick. Er entwickelte das FiBL zu einem europäischen Netzwerk mit Standorten in Deutschland, Österreich, Frankreich und Brüssel. 2020 gründete er das Institut für Agrarökologie, wo er Projekte für die Lebensmittelindustrie und Stiftungen bearbeitet.

Die Aufgabe der Bauern und Bäuerinnen ist die Erzeugung von Lebensmitteln. Das war immer so und wird auch so bleiben. Da bis ins 19. Jahrhundert hinein sehr viele Menschen damit beschäftigt waren, war dieser Berufsstand in der Volkswirtschaft sehr wichtig. Und viele Handwerker in der dörflichen Gesellschaft haben Geräte und Maschinen für die Landwirtschaft entwickelt und repariert. Somit ist aus der Landwirtschaft heraus auch der industrielle Sektor entstanden, das sieht man eindrücklich, wenn man das neu gestaltete Agrarmuseum im luzernischen Burgrain besucht. Immer ging es darum, harte Arbeit einzusparen und die Produktivität zu steigern.

Spricht man heute von gemeinwirtschaftlichen Leistungen der Landwirtschaft – etwa Biodiversität, Boden-, Landschafts-, Umwelt-, Klima- oder Tierschutz – sind das keine gleichwertigen Produktionsziele. Denn der Natur ginge es besser ganz ohne landwirtschaftliche Produktion. Es liegt aber im ureigenen Interesse der Bäuerinnen und Bauern, die natürlichen Produktionsgrundlagen nicht zu zerstören. Dies wird in Diskussionen in bäuerlichen Kreisen oft vergessen. Man muss nicht für andere etwas tun, sondern tut es aus ureigenem Interesse.

Landwirtschaft und Ernährung sind zwei Seiten derselben Medaille

Die Konsumentinnen und Bürger delegieren die Verantwortung für eine nachhaltige Lebensmittelerzeugung gerne den Bäuerinnen und Bauern. Diese produzieren aber das, was am Markt nachgefragt wird. Das sind in erster Linie günstige Lebensmittel, stets in grossen Mengen und jederzeit verfügbar. Die Lebensmitteltechnologie und der globale Handel blähen das Sortiment auf, so dass man sich wie im Schlaraffenland fühlt. Mittlerweile tappt auch der Biohandel in die gleiche Falle und huldigt statt der Göttin Demeter, welche die Erde fruchtbar machte, dem Lukullus, der das alte Rom mit seinen üppigen Völlereien prägte. Leider tönt es etwas abtörnend, wenn man zu einem sparsameren Umgang mit Lebensmitteln rät, zur Vermeidung von Verschwendung, und zu weniger Fleischkonsum. 25 Prozent der ernährungsbedingten Umweltbelastung in der Schweiz und in Liechtenstein beruhen auf der reinen Verschwendung von Lebensmitteln, welche vermeidbar wäre. Eine gesunde und ausgeglichene Ernährung hätte gemäss Modellrechnungen von Agroscope etwa 48 Prozent weniger negative Umweltwirkungen. Wir würden aber 69 Prozent weniger Fleisch essen, was auch Gesundheitskosten einsparen würde.

Ein Blick auf die globale Ernährungssicherheit

Das heutige Ernährungssystem ist nicht nachhaltig und muss radikal verändert werden. Das ist der Tenor aller Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und wurde am UNO-Ernährungsgipfel im September 2021 immer wieder erwähnt. Bei der Lösung gab es jedoch zwei Lager. Die einen, und das war eine Minderheit, wollte mit einschneidenden Massnahmen die Suffizienz, das heisst die Beschränkung und Bescheidenheit in der Ernährung, vorantreiben. Die anderen wollten die technologischen Möglichkeiten wie die Gentechnik, die Digitalisierung und weitere umweltschonende Technologien voll ausnutzen, um die Lebensmittelproduktion überall weiter zu steigern. Es gab aber auch übereinstimmende Meinungen. Dazu gehören die Wertschätzung des bäuerlichen Wissens, die Stärkung der Rechte der Bäuerinnen und Bauern, die Vermeidung von Food Waste, die Stärkung des Kreislaufdenkens oder die grosse Bedeutung von Fruchtfolgen, vielfältig strukturierten Betrieben und Landschaften. Auch Bäuerinnen und Wissenschaftler aus Afrika sagten, dass günstige Lebensmittel auf Kosten der Umwelt keine Zukunft haben werden. «Echte Preise» und damit das Umlegen der Umweltkosten auf die Lebensmittelpreise wurden plötzlich zu einem Anliegen.

Was bedeutet Agrarökologie und was könnte seine Rolle sein?

Der Biolandbau ist gut für die Umwelt und es gibt viele Biobetriebe, welche auch sozial Neues wagen. Dazu gehören Direktvermarktung, Experimente wie die solidarische Landwirtschaft, Engagement für die Integration von behinderten Menschen und Aussenseitern oder Gründung von Kooperationen für die regionale Verarbeitung und den Verkauf von Qualitätsprodukten. Der Biolandbau wird aber seine mehr oder weniger grosse Nische nur in Ausnahmefällen verlassen können. Die EU-Kommission hat ein Ziel von 25 Prozent Biolandbau im Jahre 2030 formuliert, weltweit bewirtschaften Biobäuerinnen und Biobauern nur knapp 2 Prozent der Agrarfläche. Ein Grund dafür ist, dass der Biolandbau im Durchschnitt zwischen 10 und 50 Prozent tiefere Erträge hat, je nach Standort und Produktionsform.

Wie wir heute wissen, reicht auf der grossen Fläche die integrierte Produktion oder IP Suisse nicht aus, um die Umwelt wirklich zu schonen. Zwischen Biolandbau und der integrierten Landwirtschaft positioniert sich deshalb die agrarökologische Praxis: produktiver als der Biolandbau und umweltfreundlicher als die integrierte Produktion. Die agrarökologische Praxis ist noch nicht mit Richtlinien und Verboten festgeschrieben. Sie erlaubt den Bäuerinnen und Bauern grosse Entscheidungsspielräume. Und trotzdem wird es sehr wichtig sein, dass die agrarökologische Praxis die Umwelt schont, die Fruchtbarkeit der Böden erhöht und Humus aufbaut, die Biodiversität fördert, weniger Klimagase freisetzt und bezüglich Tierwohl vorbildlich ist. Diese Vorzüglichkeit soll auch messbar sein, und dazu entwickeln verschiedene Akteure aus der Forschung und Beratung Werkzeuge, welche die Betriebsleiter und Betriebsleiterinnen selber anwenden können.

Das Projekt Agrarökologie Liechtenstein leistet also in vielfacher Hinsicht grossartige Pionierleistung. Es soll über mehrere Jahre eine neue Praxis entwickeln, welche alle Bauernbetriebe mitnimmt und von der sowohl Bio- wie integrierte Produzenten lernen können. Ökologische Vorzüglichkeit wird ernstgenommen und zusammen mit den Landwirten auch gemessen. Das soll aber nicht auf Kosten der Produktivität gehen, weil eine Extensivierung im Widerspruch steht, 10 Milliarden Menschen zu ernähren. Dass trotzdem das Konsum- und Essverhaltens angepasst werden muss, ist Teil der Zusammenarbeit mit vielen Bürgerinnen und Konsumenten. So kann auch das schier unmöglich geschafft werden, nämlich die Welt nachhaltig zu ernähren.