29.07.2021
Sozialer Zusammenhalt

Räume zum Reden

Am Anfang stand das Unbehagen zweier junger Liechtensteiner: Luis Hilti und Toni Büchel wollten der schleichenden Verbauung des Landes und auch dem damit verbundenen Verlust an sozialer Nähe etwas entgegenhalten. Mit der Gründung des Vereins ELF setzen sie seit 2019 unter anderem auf offene Diskussion und freien Meinungsaustausch. Wie auch an einem warmen Juniabend 2021.

«Liebe Freunde des gepflegten Austauschs ...» – Schon die Anrede im Newsletter, der zur Veranstaltung über aktuelle und visionäre Ansätze in der Verkehrspolitik einlädt, macht klar: Der unabhängige Verein ELF will keine Plattform für Lobbyisten oder politische Parteien bieten, die medienwirksam und eitel gegeneinander in den Ring steigen. Der Ansatz ist grosszügiger und näher an den Menschen gefasst.

«Uns geht es darum, offene Diskussionsräume zu schaffen», erklärt Luis Hilti, während er sich im Garten des Küefer-Martis-Huus in Ruggell noch zwischen Skript, Laptop und Take-away-Salat für sein Impulsreferat über ein revolutionäres Verkehrskonzept in Kopenhagen vorbereitet. «Für einen echten, freien Austausch braucht es den persönlichen Kontakt und einen nicht ideologisch kontaminierten Raum. Wir verfolgen in unserer bis 2030 begrenzten Vereinstätigkeit daher auch bewusst keine inhaltlichen Ziele.» Verein-Mitbegründer Toni Büchel, der als studierter Historiker am heutigen Abend die Geschichte der Geschwindigkeitsbeschränkung in Liechtenstein beleuchtet, ergänzt aus seiner Sicht: «Es geht uns auch darum, eine unbefangene, spielerische Atmosphäre zu bieten, damit Menschen überhaupt mutig Dinge ansprechen oder auch einmal frei andenken können.»

Im Küefer-Martis-Huus, in dem der Verein ELF 2021 eine Art Basislager aufgeschlagen hat, treffen nach und nach Besucher ein. Einige werfen noch einen Blick auf die Foto-Ausstellung zum Thema «Topografie des Sozialen», die in mehreren Räumen nicht nur die Veränderungen der Liechtensteinischen Orte zeigt, sondern auch dazu einlädt, persönliche Erfahrungen mit dieser Entwicklung zu teilen. Visionäres gibt es in der angebauten Scheune zu sehen: Ruggeller Primarschüler haben sich dort in Projektarbeiten Gedanken gemacht, wie ihre Gemeinde wohl aussehen könnte, wenn sich die Einwohnerzahl verdoppeln würde.

Auch im Garten des Kulturzentrums wird es allmählich enger. Die luftig auf dem Rasen verteilten Metallstühle sind mittlerweile alle besetzt. Die Mischung an Teilnehmern ist bunt und lebendig, Menschen quer durch verschiedene Berufs- und Altersgruppen haben Platz genommen: Ruggeller Gemeindebewohner sitzen hier zwanglos neben Landtagsabgeordneten, Vertreter von Vereinen oder Stiftungen neben Studenten und Pensionisten. An der holzverschalten Scheunenwand hängen grossformatig historische Fotos neben visionären Collagen und einfach bemalten Flipchart-Blättern. Allesamt mit engem Bezug zum heutigen Thema: dem Verkehr.

Johannes Inama, Leiter des Küefer-Martis-Huus, stellt sich vor diese Bildkulisse und begrüsst als Hausherr die Gäste, ehe er Toni Büchel um seinen historischen Input bittet. «Vor etwas mehr als 100 Jahren war noch das Pferd in Sachen Verkehr das Mass aller Dinge. Motorisierte Wägen wurden anfangs kritisch beäugt», erzählt der 31-jährige Historiker und erinnert in seinen Ausführungen an alte Zeiten, da ein Autounfall noch für grosses Aufsehen sorgte und 35 km/h als gefährliche Raserei galten.
Johannes Inama führt anschliessend in die Neuzeit über. Konkret berichtet er von einer Bürgerinitiative in Vorarlberg, die mit einem inszenierten «Parkbankstau» im Zentrum von Hohenems auf kreative Weise auf die dortige akute Verkehrsproblematik aufmerksam machte. Durchaus erfolgreich, wie der an der Aktion beteiligte Johannes Inama nicht ohne Stolz anmerkt: «Heute gibt es bereits konkrete Überlegungen, das Hohenemser Zentrum überhaupt autofrei zu machen.» Der sommerliche Himmel über Ruggell hat sich mittlerweile dunkelgrau eingefärbt. Erste, dicke Regentropfen fallen auf die Besucher im Garten. Einige suchen kurzfristig Schutz unter zwei Obstbäumen, andere spannen Regenschirme auf oder ziehen lediglich Kapuzen oder Mützen über ihre Köpfe. Niemand geht. Den Schwenk von Vorarlberg zur Liechtensteiner Kommunalpolitik ist der Ruggeller Ortsvorsteherin Maria Kaiser-Eberle vorbehalten. Ihre Einblicke in die aktuellen und zukünftigen Überlegungen in Sachen Verkehr – insbesondere die Einführung von Tempo 30 – verdeutlichen die sensiblen, realpolitischen Abwägungen zwischen Lebensqualität in den Quartieren einerseits und wirtschaftlich notwendiger Verkehrsinfrastruktur auf der anderen Seite auf. Und sie betont, wie wichtig die Einbindung der Bevölkerung – vom Primarschüler bis zum Pensionisten – bei solchen Entscheidungsprozessen ist. Der thematische Bogen für den heutigen Abend ist damit eigentlich gespannt. Doch bevor die Teilnehmer zu Gedankenaustausch und Diskussion eingeladen werden, entführt Luis Hilti zum Abschluss noch nach Kopenhagen. Mit einfachen SW-Skizzen und Farbpinselstrichen zeichnet der 34-jährige Architekt die Entwicklung einer Stadt nach, die es zur fahrradfreundlichsten und einer der lebenswertesten Städte der Welt geschafft hat. Wie das in nur wenigen Jahrzehnten gelang? Dank einem mutigen Bürgermeister, einem visionären Architekten und dessen Frau, die als Psychologin forderte, wieder den Mensch in den Mittelpunkt aller städtebaulicher und verkehrspolitischer Überlegungen zu stellen und die Infrastruktur daran anzupassen und entsprechend auszubauen. Das Ergebnis spricht für sich: Heute sind die Berufspendler in der dänischen Hauptstadt hochprozentig vom Auto auf das Rad umgestiegen und die Verkehrsbelastung ist trotz zunehmender Bevölkerung deutlich gesunken.

Von Kopenhagen zurück nach Liechtenstein. Am Ruggeller Himmel haben sich die Regenwolken wieder verzogen, Vorhang auf, sich mit dem Gehörten auseinanderzusetzen und darüber zu reden. Luis Hilti als Moderator muss die Teilnehmer nicht lange auffordern oder motivieren: Ein Besucher nach dem anderen gibt offen und ungezwungen Einblick in seine Standpunkte, Ideen aber auch Sorgen. So wünscht sich etwa ein junger Mann bei Verkehrslösungen mehr Begegnungszonen und sieht dort auch den Schlüssel für ein Umdenken in Richtung mehr Gleichberechtigung zwischen den unterschiedlichen Verkehrsteilnehmern. Eine politisch aktive Pensionistin erzählt völlig ungezwungen von ihren persönlichen Erfahrungen als ältere Fahrradfahrerin und ortet vor allem in den vielen bequemen Menschen das Hauptproblem, dass schlechte Gewohnheiten nur schwer geändert werden können. Und wieder ein anderer Teilnehmer will sich einfach nur für die hochspannenden Vorträge bedanken, die ihm neue, interessante Details und Sichtweisen offenbart haben. Kurz brandet sogar eine kleine, heftigere Diskussion auf: Ein Landtagsabgeordneter spricht von den nicht zu unterschätzenden Bedürfnissen der vielen tausenden Pendler, die täglich mit dem Auto aus dem benachbarten Ausland nach Liechtenstein zur Arbeit fahren müssen. Ein anwesender Verkehrsexperte erhebt sich darauf energisch von seinem Sessel und kontert: Die meisten Pendler kämen ohnehin aus der unmittelbaren Umgebung. Aus seiner Sicht wären diesen daher öffentliche Verkehrsmittel oder gar das Rad sehr wohl zumutbar. Beide Argumente werden von den Anwesenden interessiert zur Kenntnis genommen. Und dürfen in diesem Rahmen auch gleichberechtigt nebeneinander stehen bleiben. Die Nacht bricht langsam an. Der offizielle Teil der Veranstaltung ist längst zu Ende. An den Stehtischen scharen sich noch vereinzelt kleine Menschengruppen, die angeregt miteinander diskutieren.

Sind mit dem heutigen Abend konkret Probleme gelöst oder gar aus der Welt geschafft worden? Nein, das nicht. Aber er hat unterschiedliche Menschen zusammengebracht, sie zu einem aktuellen Thema zuhören und sprechen lassen. Sie inspiriert und animiert, über Lösungen eines akuten Problems nachzudenken und wohl auch den ein oder anderen mutigen, neuen Weg aufgezeigt. Oder um es in den Worten von Verein ELF-Mitbegründer Luis Hilti zu sagen: «Wir wollen mit dem Verein einen Beitrag leisten, dass Gesprächs- und Diskussionskultur nicht aus unserer Landschaft und unserem Leben verschwindet.» Und die hat zweifelsohne an diesem Ruggeller Sommerabend wieder ein Stück Nährboden dazugewonnen.