01.02.2023
Energie & Ressourcen

Ressourcenmangel als Chance

Der nachhaltige Umgang mit den Ressourcen dieser Welt wird zwar verlangt, im Bauwesen jedoch – jenem Bereich des Wirtschaftens, wo die grössten Stoffmengen bewegt und eingelagert werden – geschieht noch immer das Gegenteil: Die Dauerhaftigkeit vieler Produkte und Bauwerke sinkt, die Unterhaltskosten, Ersatz- und Abfallmengen nehmen zu.
Daniel Stockhammer
Seit 2021 Institutsleiter des Institut für Architektur und Raumentwicklung an der Universität Liechtenstein sowie Professor für Baukuultur und Zirkuläres Bauen

Der nachhaltige Umgang mit den Ressourcen dieser Welt wird zwar verlangt, im Bauwesen jedoch – jenem Bereich des Wirtschaftens, wo die grössten Stoffmengen bewegt und eingelagert werden – geschieht noch immer das Gegenteil: Die Dauerhaftigkeit vieler Produkte und Bauwerke sinkt, die Unterhaltskosten, Ersatz- und Abfallmengen nehmen zu. Endliche Ressourcen werden abgebaut, die Rohstoffpreise und Versorgungsabhängigkeit steigen. Dabei birgt gerade der Baubestand – noch immer die grösste und beständigste Wertanlage unserer Gesellschaft – das Potenzial zu Lösungsansätzen, die eine stetig wachsende Umwelt- und Klimaproblematik so dringend erfordert: Ressourceneinspeicherung statt Endlager, ein nachhaltiger Ressourcengebrauch statt -verbrauch, ermöglicht durch die Prinzipien der Zirkularität.

Zum «Bauwerk» Liechtenstein

Die Bauwirtschaft ist der Haupttreiber im Materialverbrauch und für etwa 60 % aller Abfälle verantwortlich. Bis zu 35000 Tonnen Baumaterial werden jährlich in Liechtenstein zurückgebaut. Gleichzeitig wird fast das Dreifache an Material der Gesamtbaumasse hinzugeführt. Heute werden bereits 80 % des Abbruchmaterials recycliert, doch grösstenteils noch in minderwertiger Funktion weiterverwertet (Downcycling), sodass für gleichwertige Materialaufgaben wieder neue Baustoffe erzeugt werden müssen. 20 % des Abbruchs (etwa 7000 Tonnen pro Jahr in Liechtenstein) landen auf der Deponie oder in der Verbrennungsanlage.

Das Gesamtbauwerk Liechtenstein wiegt etwa sieben Millionen Tonnen, davon liegt der Hauptanteil bei knapp 80 % Beton und 13 % Ziegel. Der Holzbau hat einen sparsamen Gewichtsanteil von etwa 2 %. Das Potenzial der Wiederverwendung und der materielle Wert der verbauten Masse liegt jedoch bei der enormen Menge an wiederverwendbarer Mineralwolle, den Metallen und – je nach Möglichkeit und Aufwand – beim Gips. Das gemischte Materialkonto pro Liechtensteiner:in wiegt etwa 180 Tonnen, also viereinhalb 40 t-LKWs. Das bisherige Prinzip des Material(durch-)flusses bedeutet, dass das Bauwerk Liechtenstein ständig aufs Neue erzeugt werden muss – sowohl als Wertanlage als auch kulturelles Erbe unserer Gesellschaft.

Prinzipien der Zero-Waste-Initiative

Die Prinzipien zur Reduktion von Abfall beschrieb Bea Johnson, amerikanische Umweltaktivistin und Autorin, bereits mit den «Fünf R’s» ihrer Zero-Waste-Initiative: Je geringer die Änderungen am Ausgangsprodukt ausfallen, desto besser ist die Energiebilanz und Nachhaltigkeit dieses Prozesses. Überträgt man diese Regeln auf das Bauwesen und den Umgang mit Bestandsgebäuden, können wir folgende Nachhaltigkeitsregeln für das Bauen beschreiben:

 

1.      Refuse (verwehren): Priorisierung von Erhalt, Pflege und Reparatur, Abtausch statt Ersatz. Vom Bau zum Nichtbau

2.      Reduce (reduzieren): Reduzierte Bodenbeanspruchung und reduzierte Baumassnahmen am Bestand, wie Nachverdichtung, Um- und Weiterbau

3.      Reuse (wiederverwenden): Rückbau, Dekonstruktion, Bauteilsicherung, Wieder- und Weiterverwendung von Bauteilen

4.      Recycle (wiederverwerten): Abbruch, Baustofftrennung, Wieder- und Weiterverwertung von Baustoffen

5.      Rot (verrotten): Rückführung in natürliche Kreisläufe, Abfall- und schadstofffreier Zerfall des Bauwerks, z.B. eine Blockhütte im Wald

Die Zukunft erfordert nach Werner Sobek, Professor an der Universität Stuttgart und Gründungsmitglied der DGNB (Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen), dass alle zur Herstellung eines Gebäudes benötigten Materialien vollständig wiederverwendbar sein müssen. Seine Maximen dabei lauten: «Dekonstruktion statt Destruktion», rezyklierbare «Verwertung statt Vernichtung» oder kompostierbarer «Anbau statt Abbau».

Je früher wir in den Prozess gezielt eingreifen, desto höher ist die Nachhaltigkeit unserer Planung und desto niedriger sind die Folgekosten für Umwelt und Gesellschaft.

Opportunitäten im Umgang mit Rückbau

Innovative Konzepte und Geschäftsmodelle für die Kreislaufwirtschaft existieren bereits in verschiedenen Ländern. Inwiefern sie sich für die hiesige Bauwirtschaft anwenden lassen könnten, zeigen die folgenden Lösungsansätze:

1.       Materialkataster: Kartierung und Materialpass von Baumaterialien für deren Rückverfolgbarkeit (Beispiel: Madaster). Möglichkeit für Liechtenstein: Materialausweis und Rückbaueingabe als Teil von Baubewilligungsverfahren

2.       Abbau: Sorgfältiger Rückbau von wieder- und weiterverwendbarem Material vor Ort durch Spezialisten für Demontage (Beispiel: BauKarussell; rotordb.org). Möglichkeit für Liechtenstein: Arbeitsvermittlungsplattform zwischen Eigentümer und Auftragnehmer

3.       Aufarbeitung und Lagerung: Reparatur, Erneuerung und Veredlung von Rückbaumaterial (Beispiel: BAMB - Buildings As Material Banks). Möglichkeiten für Liechtenstein: regionale Reparatur-, Erneuerungs- und Beratungszentren mit Bauteillager

4.       Handel: Digitale Plattform für den Handel oder die Vermietung von Bauteilen und Baumaterialien (Beispiele: btbbasel.ch; bauteilclick.ch; salza.ch; materiuum.ch, etc.). Möglichkeiten für Liechtenstein: Onlinebörse für Handel, Leasing und Versicherung von Bauteilen und Baustoffen

5.       Qualitätssicherung: Wiedereinbau von zertifizierten Bauteilen und Baustoffen mit Leistungsgarantie. Möglichkeiten für Liechtenstein: Aufbau von Regelwerk und Gesetzgebung zur Frage von Haftung, Bewertungsmethoden und Versicherungsprodukten

Von linear zu zirkulär – ein Gedankenspiel

Nach ökonomischen Grundsätzen würde bei einer Verknappung (oder gar dem Stopp) der Ressourcenzufuhr der Baumaterialwert steigen. Ziegelsteine beispielsweise würden vermutlich nicht mit hochfestem Mörtel vermauert. Um sie unbeschädigt rückzugewinnen, müssten sie gefügt oder mit lösbarem Mörtel verbunden werden. Bauten könnten zu Materialbanken werden, da sie als Lagerstätte zur Wertanlage würden. Anstelle von verklebtem Einwegpolystyrol würde der Wärmedämmwert durch ein wiederverwendbares Produkt oder mehr Materialeinsatz erreicht. Hinsichtlich Diversifizierung im schwankenden Markt aus Angebot und Nachfrage wären auch mehrfach einsetzbare Bauteile sinnvoll. Tragwerke aus Stahl würden womöglich nicht mehr geschweisst, sondern aus Standardbauteilen zusammengeschraubt. Die Herstellung von Einwegprodukten wäre dann nicht nur teuer, sondern ihrer kurzen Lebensdauer wegen vermutlich unrentabel.

Wir können davon ausgehen: Einige Prinzipien der linearen Bauwirtschaft würden bei einem Kreislaufmodell umgedreht und neu gedacht. Ökonomisch sinnvoll wären Baumaterialien von hoher Lebensdauer. Bauteile müssten reparaturfähig werden, geplante Obsoleszenz wäre teuer (Reparatur statt Ersatz). Um den Kreislauf mittels Dekonstruktion und Wiederverwendung aufrecht zu erhalten, bräuchte es zudem mehr Fachleute und neue Berufe. Investitionen würden in Arbeitskraft statt neue Rohstoffe fliessen.

Liechtenstein als digitales Modell und Testlabor

Liechtenstein hat dank seiner geographischen Lage und Grösse die Möglichkeit, zum Testlabor und Vorreiter im zirkulären Ressourcenmanagement zu werden. Dazu ist die Heterogenität der Siedlungsstruktur sehr geeignet, die Innovationsbereitschaft hoch und Entscheidungen werden schnell gefällt. Als digitales (BIM-)Modell mit sämtlichen verbauten Stoffen könnte Liechtenstein zum ersten vollständig digitalisierten Materiallager werden. Ein Land als digitaler Zwilling wäre zudem beliebig erweiterbar, etwa für eine nachhaltige Raum- und Verkehrsplanung, wie sie bereits in Smart Cities zur Anwendung kommt. Mit den dabei gewonnenen Daten würden virtuelle Materialspeicher und Zertifikate simuliert und es Unternehmen ermöglicht, Material zu handeln, bevor es aus dem Gebäude extrahiert wird: «Neues» Bauen würde sich vom Dogma des Neubaus lösen.

Das Prinzip der linearen Wirtschaft (Aufgeben und Ersetzen) bedeutet bislang die Förderung von Material und Umweltbelastung mittels nicht erneuerbaren Kapitalien. Eine nachhaltige Politik der Ressourcennutzung beginnt bei der Substanzerhaltung, der Nutzung erneuerbarer Quellen und digitaler Technologien sowie der hochwertigen Wieder- und Weiterverwendung vorhandener Ressourcen. Die Entscheidung gegen das Modell des Ersatzes und zugunsten der Ressourcenerhaltung ist eine Entscheidung für die Dimension der Dauer, langfristiger Chancen und nachkommender Generationen.

Anm.: Gekürzte und überarbeitete Version der Beiträge von Daniel Stockhammer und Philipp Entner aus: Stockhammer, Daniel (Hrsg.): Upcycling. Wieder- und Weiterverwendung als Gestaltungsprinzip in der Architektur. Zürich 2020, S. 14–31, S. 132–147. Die Forschungsarbeiten wurden durch die Liechtensteiner Stiftung API ermöglicht.