
Vielfältigkeit als Fundament
Wie würdest Du den Begriff «Sozialer Zusammenhalt» definieren?
Im Vordergrund stehen für mich eine starke Identifikation und Verbundenheit mit dem Gemeinwesen, Vertrauen in Mitmenschen und Institutionen, gelebte Solidarität und die Bereitschaft, am gesellschaftlichen und politischen Leben teilzunehmen. Es gibt aber keine allgemeingültige Definition von sozialem Zusammenhalt. Gerade beim Stichwort Diversität können die Vorstellungen, wie sich diese auf den sozialen Zusammenhalt auswirken, sehr unterschiedlich sein. Für die einen ist die Grundlage für einen funktionierenden sozialen Zusammenhalt eine möglichst offene Gesellschaft, für die anderen wiederum eher eine in sich geschlossene Gesellschaft.
Welche Rolle spielte dieser Themenbereich bisher in Studien oder Umfragen, die vom Liechtenstein-Institut durchgeführt worden sind?
Bei Abstimmungs- und Wahlumfragen stellen wir immer wieder Fragen zum Vertrauen in die Institutionen oder die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie. Vereinzelt haben wir auch konkret nach der Wahrnehmung des sozialen Zusammenhalts gefragt. Im internationalen Vergleich steht Liechtenstein gut da. Seit der Corona-Pandemie wird der soziale Zusammenhalt aber weniger gut wahrgenommen als früher. Umso wichtiger wäre es, wenn sich einmal eine Befragung ausschliesslich dieser Thematik widmen würde.
Gibt es Besonderheiten, die vor allem für Liechtenstein gelten?
Das eher hohe Vertrauen in politische Institutionen kann man sicher mit den kurzen Wegen zu Politik und Verwaltung, den vielfältigen politischen Partizipationsmöglichkeiten und einer grossen Bürgernähe der Politiker:innen erklären. Dafür wiederum sind vor allem die Kleinheit Liechtensteins, die direkte Demokratie und das Milizsystem verantwortlich. Auf der anderen Seite muss man aber auch sehen, dass sich die Politik in Liechtenstein ein Stück weit aus der Verantwortung stehlen kann. Viele Themen werden erst aufgegriffen, wenn andere Staaten schon entsprechende Lösungen umgesetzt haben. Andere Themen wie die internationale Sicherheit können von einem Kleinstaat erst gar nicht gelöst werden. Das macht es Politiker:innen hierzulande auch einfacher.
Welche Rolle spielt denn der Blick über die Landesgrenzen hinaus?
Für mich ist das ein zentraler Aspekt. Liechtenstein ist in so vielen Bereichen vom Ausland abhängig, sodass wir zentrale Elemente des Konzepts von sozialem Zusammenhalt wie die Solidarität und Hilfsbereitschaft nicht nur innerhalb der Landesgrenzen denken dürfen. Um ein aktuelles Beispiel zu geben: Liechtenstein profitiert enorm von der Sicherheitsarchitektur in Europa. Durchschnittlich geben die Staaten in der EU 1 bis 2 % ihres BIP für die Verteidigung aus. Liechtenstein kennt keine vergleichbaren Ausgaben. Als Zeichen dafür, dass es bereit ist, international Verantwortung zu übernehmen, könnte Liechtenstein beispielsweise im Rahmen eines Sonderfonds wenigstens 1 % seines BIP für internationale Entwicklungs- oder Forschungszusammenarbeit aufwenden.
Haben sich speziell Corona, Energiekrise und Ukraine-Krieg auf den sozialen Zusammenhalt in Liechtenstein ausgewirkt?
Die Tonlage in gesellschaftlichen und politischen Debatten oder auch in Leserbriefen hatte sich bereits vor der Corona-Pandemie verschärft. Durch die Corona-Pandemie kam die Polarisierung zwischen geimpften und ungeimpften Personen hinzu. Allerdings halte ich diese Polarisierung nicht für nachhaltig, weil sie auf eine einzelne Frage beschränkt war. Sorgen bereiten mir mehr jene Gruppen, welche die gesundheitsgefährdenden Auswirkungen des Corona-Virus grundsätzlich infrage stellten und darin eine Verschwörung von Politik und Medien sehen. Das sind zwar nur wenige Personen, sie kommunizieren aber sehr aktiv auf verschiedenen Kanälen und konstruieren auch bei anderen Themen wie etwa dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ihre ganz eigene Wahrheit.
Ich möchte aber noch einen anderen Aspekt erwähnen. In Liechtenstein wird die Eigenverantwortung traditionell grossgeschrieben. Staatliche Eingriffe und Unterstützung sind demgegenüber schlecht angesehen. In der Corona-Pandemie waren aber viele Unternehmen auf staatliche Unterstützung angewiesen. Und natürlich sind auch die vielen sozialen Institutionen und Hilfsdienste stärker in den Fokus gerückt. Selbst wenn Liechtenstein als liberaler Wirtschaftsstandort dargestellt wird, so ist in Wahrheit auch unser Wohlfahrtsstaat gut ausgebaut. Und dazu darf man sich ruhig auch bekennen.
Gibt es in der Wahrnehmung des sozialen Zusammenhalts auch sogenannte «blinde Flecken»?
In meinen Augen gibt es das Problem, dass sich die Politik bisweilen zu stark auf jene Bevölkerungsgruppe konzentriert, die politisch auch tatsächlich am Geschehen teilnehmen kann. Das ist nur logisch, denn es ist letztlich ihre Wählerschaft. Die Politik hat sich aber an die gesamte Bevölkerung zu richten. Gerade zu Themen wie Armut, den Bildungschancen von Personen mit Migrationshintergrund oder der Erwerbsbeteiligung von Menschen mit Behinderungen gibt es in Liechtenstein kaum Daten. Gewisse Themen, die für den sozialen Zusammenhalt wichtig wären, bleiben so unter dem Radar.
Stichwort Migrationshintergrund: Wo besteht hier Handlungsbedarf?
Um ein Beispiel zu geben: Ein zentraler Slogan in der Informationskampagne zur Corona-Pandemie lautete «Heben Sorg». Das ist originell und prägnant. Aber es ist nicht davon auszugehen, dass alle in Liechtenstein wohnhaften Personen tatsächlich Dialekt verstehen. Eine landesweite Corona-Informationskampagne sollte sich sinnvollerweise an die gesamte Bevölkerung richten und solche Sprachbarrieren erst gar nicht einbauen. Auch haben unsere Umfragen gezeigt, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund deutlich stärker unter der Pandemie gelitten haben als Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Das gilt insbesondere für Mädchen. Diese Problematik sollte man sich näher anschauen.
Was wären sonstige Ansatzpunkte, um den sozialen Zusammenhalt quer durch alle Bevölkerungsgruppen zu stärken?
Ich denke, wir alle sollten ein vielfältiges und offenes Liechtenstein stärker leben. Diesem Prozess muss man sich aber aktiv und ehrlich stellen. Warum sollte es bei uns nicht auch einmal einen Landtagsabgeordneten oder eine Landtagsabgeordnete mit Migrationshintergrund geben? Nach meiner Meinung könnten hier die politischen Parteien mehr tun, wenn sie nach Kandidierenden suchen. Auch über die politische Beteiligung von ausländischen Staatsangehörigen wäre nachzudenken – insbesondere solange die Einbürgerungsgesetzgebung so restriktiv bleibt. Unsere Offenheit ist ja als Erfolgsfaktor zu sehen. In gewissen Branchen beträgt der Anteil an Mitarbeitenden ohne liechtensteinische Staatsangehörigkeit über 90 %. Ohne Ausländer:innen wäre der wirtschaftliche Erfolg Liechtensteins in diesem Ausmass nicht möglich.
Welche Rolle spielt das in Liechtenstein so stark verankerte Vereinswesen?
Wir haben im Land eine hohe Vereinsdichte und eine attraktive Vereinsförderung. Zwar kommt den Vereinen wohl nicht mehr die gleiche Bedeutung zu wie früher, dennoch erbringen sie wichtige Integrationsleistungen. Das gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche. Auch zahlreiche Akteur:innen, welche sich im sozialen Bereich engagieren oder zum kulturellen und sportlichen Angebot in Liechtenstein beitragen, sind als Vereine organisiert. Für mich sind die Vereine deshalb weiterhin ein Schlüsselfaktor für den sozialen Zusammenhalt.
Zum Abschluss ein Ausblick: Was wird für einen langfristigen sozialen Zusammenhalt in Liechtenstein entscheidend sein?
Ich habe zu Beginn gesagt, dass für die einen eine möglichst offene Gesellschaft die Grundlage für einen funktionierenden sozialen Zusammenhalt ist, für die anderen wiederum eher eine in sich geschlossene Gesellschaft. Persönlich glaube ich, dass die Diversität der Gesellschaft in Zukunft weiter zunehmen wird und deshalb die Akzeptanz dieser Diversität wichtig für den sozialen Zusammenhalt ist. Natürlich ist dies ein steter Prozess und es ist wichtig, dass sich alle mit ihren Positionen in den Diskurs einbringen können.
Zur Person
Christian Frommelt (*1982) ist Politikwissenschaftler und Experte zur Europäischen Integration. Seit April 2018 leitet er das Liechtenstein-Institut in Gamprin-Bendern. Das Liechtenstein-Institut ist ein unabhängiges Forschungsinstitut, welches zu liechtensteinrelevanten Themen in den Bereichen Geschichts-, Politik-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften forscht. Unter anderem führt das Institut regelmässig Umfragen durch, um aussagekräftige Daten zu Politik und Gesellschaft in Liechtenstein zu gewinnen.
Foto: Brigitt Risch, Schaan