13.12.2021
Sozialer Zusammenhalt

«Wer das Gefühl hat, in einer Gesellschaft nicht ernstgenommen zu werden und nicht mitbestimmen zu können, wendet sich von ihr ab.»

Die Stärkung und Bewahrung des sozialen Zusammenhalts ist nicht nur eines der vier Fokusthemen der Stiftung Lebenswertes Liechtenstein, sondern auch global gesehen eine zentrale Herausforderung unserer Gesellschaft. Im folgenden Interview spricht Sven Braune von der gemeinnützigen PHINEO AG, in welchen Rahmenbedingungen sozialer Zusammenhalt funktioniert und wie man diesen wirkungsvoll fördern kann.

Können Sie vorab kurz skizzieren, was die gemeinnützige PHINEO AG genau macht, für die Sie tätig sind?

Wir sind ein Analyse- und Beratungshaus für soziale Wirkung. Wir schauen uns in der Praxis an, wie es Non Profits gelingt, soziale Verbesserungen in ihrem unmittelbaren lokalen Umfeld, ihrer Region oder darüber hinaus zu erzielen. Das Wissen darüber geben wir an fördernde Stiftungen, Unternehmen und Philanthrop*innen weiter. Themen sind unter anderem der Kampf gegen Armut, Bildungsgerechtigkeit, Klimaschutz und sozialer Zusammenhalt.

Wie gehen Sie in Ihrer Arbeit konkret vor?

Wir bieten nicht nur Informationen zu wirkungsvollen Ansätzen, sondern wollen Non Profits und Fördernden auch helfen, dass sie ihre Wirkung vergrössern und verbreiten. Dazu unterstützen wir sie mit einem umfassenden Angebot an Kursen, Fortbildungen, Beratungen und Publikationen zu Wirkungsplanung und -analyse. Wir nehmen dabei bewusst auch Themen im Bereich Organisationsentwicklung unter die Lupe. Denn eines ist klar: Wirkungsvolle Arbeit braucht stabile Rahmenbedingungen und Ressourcen.

Wo und wann haben Sie von der Stiftung Lebenswertes Liechtenstein das erste Mal erfahren und wie sieht aktuell der gegenseitige Austausch aus?

Flurina Seger, die Geschäftsführerin der Stiftung, ist auf uns zugekommen, nachdem sie von unseren Recherchen über wirkungsvolle Ansätze für den sozialen Zusammenhalt erfahren hat. Wir haben beide rasch festgestellt, dass uns nicht nur das Thema verbindet, sondern wir uns trotz der Länderunterschiede immer wieder gut über unser diesbezügliches Engagement austauschen können.

Bleiben wir gleich beim Bereich „Sozialer Zusammenhalt“, der ja eines der vier Fokusthemen der Stiftung Lebenswertes Liechtenstein darstellt. Ein Begriff, der erfahrungsgemäss schwer zu greifen ist. Wie definieren Sie diesen und welche Bereiche umfasst er?

Sozialer Zusammenhalt zeigt sich prinzipiell an der Stärke sozialer Bindungen in einer Gesellschaft. Enge soziale Bindungen entwickeln sich oft im Umfeld der Familie, im Freundeskreis oder unter Gleichgesinnten. Sie knüpfen ein belastbares Netzwerk, in dem sich Menschen helfen und unterstützen, sich vertrauen und zugehörig fühlen. Allerdings neigen diese engen Netzwerke dazu, sich nach aussen abzugrenzen. Wenn es dann in einer Gesellschaft nur abgeschlossene Gruppen gibt und zudem kaum Austausch mit anderen Gruppen stattfindet, ist das schlecht für den generellen Zusammenhalt. Daher braucht es unbedingt Brücken zwischen Menschen und Gruppen, die auf den ersten Blick wenig Gemeinsamkeiten haben. Diese loseren Bindungen über das enge Umfeld hinaus zeigen sich zum Beispiel in Dialog, Kooperation und solidarischem Verhalten zwischen Gruppen. Letztlich sind dafür auch die Verbindungen zwischen Menschen und staatlichen Institutionen enorm wichtig. Wer das Gefühl hat, in einer Gesellschaft nicht ernstgenommen zu werden und nicht mitbestimmen zu können, wendet sich von ihr ab. Das Vertrauen in die Institutionen und die Chance, persönlich daran teilzuhaben, sind für das Gefühl von Zugehörigkeit und Zusammenhalt grundlegend wichtig.

Welche Aufgaben kann ein Staat für den sozialen Zusammenhalt nur schwer oder nicht immer ausreichend erfüllen und bietet so der Zivilgesellschaft wichtige Betätigungsfelder?

Eine aktive Zivilgesellschaft mildert soziale Konflikte und hat eine Brückenbaufunktion. Sie hilft Menschen, belastbare Netzwerke in ihrem Umfeld zu knüpfen, etwa durch Familien- und Nachbarschaftshilfe, durch Sport- und Freizeitvereine oder Paten- und Peer-Projekte. Sie bringt Menschen zusammen, die sich im Alltag vielleicht gar nie begegnen würden.

So sind etwa in unserer aktuellen Einwanderungsgesellschaft interkultureller Dialog, Begegnungsprojekte oder Diversity-Bildung wichtige Ansätze für Kennenlernen, Kooperation und Vertrauen. Zudem ist die Zivilgesellschaft ein Innovator in der Demokratiebildung. Mit kreativer Kinder- und Jugendbeteiligung schafft sie die Voraussetzung, dass sich Menschen frühzeitig ernstgenommen und zugehörig fühlen. Ausserdem ist eine aktive Zivilgesellschaft einfach wichtig, um soziale Ungerechtigkeiten ins politische und öffentliche Bewusstsein zu rufen und an Lösungen mitzuwirken.

Welche Impulse und innovative Ansätze sollten und könnten in diesem Bereich noch stärker als bisher gerade von NPOs und gemeinnützigen Stiftungen kommen?

Vor allem ist es wichtig, bereits existierende Ansätze zu verstärken und zu skalieren. Beim Thema „Sozialer Zusammenhalt“ sollten Stiftungen ihren Förderblick verstärkt auch auf strukturschwache Regionen werfen und das Engagement vor Ort fördern. Insbesondere dort, wo sich Menschen abgehängt fühlen und unter schwierigen Umständen leben müssen, liegen Gefährdungspotenziale für den Zusammenhalt. Ausserdem sollten Non Profits oder auch gemeinnützige Stiftungen in ihrer Arbeit auf niedrigschwellige Zugänge für benachteiligte Gruppen achten. Zum Beispiel in der Kinder- und Jugendbeteiligung oder auch in Begegnungsprojekten.

Es wäre generell wünschenswert, wenn Organisationen mehr gefördert werden würden, die sich dem Empowerment von benachteiligten Gruppen widmen. Etwa mehr Unterstützung für Migranten-Selbstorganisationen der Roma wäre für Stiftungen eine gute Gelegenheit, sich mit der am stärksten benachteiligten Gruppe in Europa solidarisch zu zeigen.

Über alle Landesgrenzen hinweg hat Corona vieles auf den Kopf gestellt. Hat Ihrer Meinung nach diese Pandemie den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft nachhaltig verändert?

Ich kann da nur über Deutschland reden. Laut aktuellen Studien haben hierzulande soziale Ungleichheiten in der Pandemie zugenommen. Das ist ein Gefährdungspotenzial für den Zusammenhalt. Auch die Verschwörungsgläubigkeit hat in der Pandemie zugenommen und man muss sicher im Auge behalten, ob sich hier ein nachhaltiges Misstrauen in Institutionen und Eliten verfestigen wird oder nicht.

Insgesamt gibt es aber doch Anzeichen, dass der soziale Zusammenhalt zumindest in Deutschland recht stabil ist. In der jährlich erscheinenden Studie der Bertelsmann Stiftung zum sozialen Zusammenhalt konnte zumindest 2020 noch keine wesentliche Veränderung durch die Corona-Pandemie festgestellt werden. Dieses Bild könnte allerdings heute – nur ein Jahr später – bereits überholt sein. Es braucht also sicher weiterhin Forschung und Beobachtung der Lage.

Wesentlicher Kern jeder Stiftungsarbeit sind erfolgreiche, nachhaltige Projekte. Gibt es aus Ihrer Erfahrung einfache Grundregeln, die man dafür zu beachten und einzuhalten hat?

Erstens sollten Stiftungen einmal unterstützte, erfolgreiche Projekte weiter stärken und verbreiten statt nach kurzer Anschubfinanzierung bereits nach dem nächsten „Leuchtturm“ zu suchen. Viele Projektverantwortliche beklagen zurecht, dass sie aufgrund des Innovationsdrucks von Fördermittelgebenden mehr mit Antragstellen beschäftigt sind als mit der Wirkung und Weiterentwicklung ihrer eigentlichen Arbeit.

Zweitens ist es wichtig, nicht nur in ein einzelnes Projekt, sondern auch in die jeweilige Trägerorganisation und die übergeordnete Infrastruktur zu investieren. Eine strukturelle Unterfinanzierung wirkt sich nämlich meist unmittelbar auf die Leistungsfähigkeit der geförderten Organisation aus. Gezielte Investitionen in die einem Projekt übergeordneten Strukturen kommen nicht nur dem eigentlichen Projekt, sondern auch der Wirkung der Stiftungsarbeit zugute.

Wenn Sie einen Blick in die Zukunft wagen: Welches ist das Thema, das den sozialen Zusammenhalt in den nächsten Jahren wohl am meisten auf die Probe stellen wird?

Die gefühlte und tatsächliche soziale Ungleichheit bleibt sicher die grösste Herausforderung für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Zudem müssen wir in vielen Ländern die Entwicklungen des Rechtspopulismus und -extremismus in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen im Auge behalten. Hier haben sich Milieus verfestigt, die eine plurale und solidarische Gesellschaft nicht nur ablehnen, sondern aggressiv und teils militant attackieren.

Zur Person
Sven Braune (*1982) ist Politwissenschaftler und seit 2011 in der Organisationsberatung für Unternehmen und Non Profits tätig.Seit 2016 arbeitet Braune bei der gemeinnützigen PHINEO AG in Berlin, wo er insbesondere NPOs und Stiftungen unterstützt, den Wirkungsgrad ihrer Arbeit zu erhöhen. Sein besonderes Interesse gilt dem Engagement gegen Rechtsextremismus und der Stärkung benachteiligter Gruppen. Mehr Info unter:
www.phineo.org